Kapitel
II: Der Onkel
Studien
und Geschäft/Zweieinhalb Monate/Zwei dicke Herren/Die Sorge des
Onkels/Josies Müdigkeit
Im
Hause des Onkels gewöhnte sich Josie bald an die neuen Verhältnisse.
Der Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen
und niemals musste Josie sich erst durch schlechte Erfahrungen
belehren lassen, wie dies meist das erste Leben im Ausland so
verbittert.
Josies
Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untere
Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische
anschlossen, von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden.
Das Licht, das in sein Zimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre
eindrang, brachte Josie immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens
aus seiner kleinen Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte er wohl
wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwanderer ans Land
gestiegen wäre? Ja, vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach
seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr
wahrscheinlich hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten
eingelassen, sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum
zu kümmern, dass er keine Heimat mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte
man hier nicht hoffen, und es war ganz richtig, was Josie in dieser
Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen
hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung
wahrhaft zu genießen.
Ein
schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach
hin. Was aber in der Heimatstadt Josies wohl der höchste
Aussichtspunkt gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den
Überblick über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich
abgehackter Häuser gerade und darum wie fliehend in die Ferne sich
verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer
sich erhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht
vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der
von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinander
gestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von
Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch
eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und
Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfasst und durchdrungen von
einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der
Gegenstände zerstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht
wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde
über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden
Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.
Vorsichtig,
wie der Onkel in allem war, riet er Josie, sich vorläufig ernsthaft
nicht auf das Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und
anschauen, aber sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage
eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und
wenn man sich hier auch, damit nur Josie keine unnötige Angst habe,
rascher eingewöhne, als wenn man vom Jenseits in die menschliche
Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, dass das
erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und dass man sich
dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man
ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen
dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die z.B. statt nach
diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem
Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße herunter
gesehen hätten. Das müsse unbedingt verwirren! Diese einsame
Untätigkeit, die sich in einen arbeitsreichen New Yorker Tag
verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden gestattet und
vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos, angeraten werden, für
einen der hier bleiben wird, sei sie ein Verderben, man könne in
diesem Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine
Übertreibung ist. Und tatsächlich verzog der Onkel immer ärgerlich
das Gesicht, wenn er bei einem seiner Besuche, die immer nur einmal
täglich und zwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten erfolgten,
Josie auf dem Balkone antraf. Josie merkte das bald und versagte sich
infolgedessen das Vergnügen, auf dem Balkon zu stehen, nach
Möglichkeit.
Es
war ja auch bei weitem nicht das einzige Vergnügen, das er hatte. In
seinem Zimmer stand ein amerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie
sich ihn sein Vater seit Jahren gewünscht und auf den
verschiedensten Versteigerungen um einen ihm erreichbaren, billigen
Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne dass es ihm bei seinen kleinen
Mitteln jemals gelungen wäre. Natürlich war dieser Tisch mit jenen
angeblich amerikanischen Schreibtischen, wie sie sich auf
europäischen Versteigerungen herumtreiben, nicht zu vergleichen. Er
hatte z.B. in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe
und selbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten
einen passenden Platz gefunden, aber außerdem war an der Seite ein
Regulator und man konnte durch Drehen an der Kurbel die
verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach
Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich
langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu
aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz
ein ganz anderes Aussehen und alles ging, je nachdem man die Kurbel
drehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste
Erfindung, erinnerte aber Josie sehr lebhaft an die Krippenspiele,
die zuhause auf dem Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt
wurden, und auch Josie war oft in seine Winterkleider eingepackt
davor gestanden und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, die ein
alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im Krippenspiel verglichen,
mit dem stockenden Vorwärtskommen der heiligen drei Könige, dem
Aufglänzen des Sternes und dem befangenen Leben im heiligen Stall.
Und immer war es ihm erschienen, als ob die Mutter, die hinter ihm
stand, nicht genau genug alle Ereignisse verfolge, er hatte sie zu
sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken fühlte und hatte ihr
solange mit lauten Ausrufen verborgenere Erscheinungen gezeigt,
vielleicht ein Häschen, das vorn im Gras abwechselnd Männchen
machte und sich dann wieder zum Lauf bereitete, bis die Mutter ihm
den Mund zuhielt und wahrscheinlich in ihre frühere Unachtsamkeit
verfiel. Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht, um an solche
Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen bestand
wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhang wie in Josies
Erinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von Josie mit diesem
Schreibtisch durchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für
Josie einen ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen und solche
Schreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung
versehen, deren Vorzug nämlich auch darin bestand, bei älteren
Schreibtischen ohne große Kosten angebracht werden zu können.
Immerhin unterließ der Onkel nicht, Josie zu raten, den Regulator
möglichst gar nicht zu verwenden; um die Wirkung des Rates zu
verstärken, behauptete der Onkel, die Maschinerie sei sehr
empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr
kostspielig. Es war nicht schwer einzusehen, dass solche Bemerkungen
nur Ausflüchte waren, wenn man sich auch andererseits sagen musste,
dass der Regulator sehr leicht zu fixieren war, was der Onkel jedoch
nicht tat.
In
den ersten Tagen, an denen selbstverständlich zwischen Josie und dem
Onkel häufigere Aussprachen stattgefunden hatten, hatte Josie auch
erzählt, dass er zu Hause wenig zwar, aber gern Klavier gespielt
habe, was er allerdings lediglich mit den Anfangskenntnissen hatte
bestreiten können, die ihm die Mutter beigebracht hatte. Josie war
sich dessen wohl bewusst, dass eine solche Erzählung gleichzeitig
die Bitte um ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügend
umgesehen, um zu wissen, dass der Onkel auf keine Weise zu sparen
brauchte. Trotzdem wurde ihm diese Bitte nicht gleich gewährt, aber
etwa acht Tage später sagte der Onkel, fast in der Form eines
widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangt und
Josie könne, wenn er wolle, den Transport überwachen. Das war
allerdings eine leichte Arbeit, aber dabei nicht einmal viel leichter
als der Transport selbst, denn im Haus war ein eigener Möbelaufzug,
in welchem ohne Gedränge ein ganzer Möbelwagen Platz finden konnte,
und in diesem Aufzug schwebte auch das Piano zu Josies Zimmer hinauf.
Josie selbst hätte zwar in dem gleichen Aufzug mit dem Piano und den
Transportarbeitern fahren können, aber da gleich daneben ein
Personenaufzug zur Benutzung frei stand, fuhr er in diesem, hielt
sich mittels eines Hebels stets in gleicher Höhe mit dem andern
Aufzug und betrachtete unverwandt durch die Glaswände das schöne
Instrument, das jetzt sein Eigentum war. Als er es in seinem Zimmer
hatte und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrische
Freude, dass er statt weiter zu spielen aufsprang und aus einiger
Entfernung die Hände in den Hüften das Klavier lieber anstaunte.
Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnet und sie trug dazu bei,
sein anfängliches, kleines Unbehagen, in einem Eisenhause zu wohnen,
gänzlich verschwinden zu lassen. Tatsächlich merkte man auch im
Zimmer, so eisenmäßig das Gebäude von außen erschien, von
eisernen Baubestandteilen nicht das Geringste, und niemand hätte
auch nur eine Kleinigkeit in der Einrichtung aufzeigen können,
welche die vollständigste Gemütlichkeit irgendwie gestört hätte.
Josie erhoffte sich in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel
und schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die
Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen
Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken. Es klang ja
allerdings sonderbar, wenn er vor den in die Lärm erfüllte Luft
geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte,
das die Soldaten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern liegen
und auf den finstern Platz hinaus schauen, von Fenster zu Fenster
einander zusingen — aber sah er dann auf die Straße, so war sie
unverändert und nur ein kleines Stück eines großen Kreislaufes,
das man nicht an und für sich anhalten konnte, ohne alle Kräfte zu
kennen, die in der Runde wirkten. Der Onkel duldete das Klavierspiel,
sagte auch nichts dagegen, zumal Josie sich auch ohne Mahnung nur
selten das Vergnügen des Spieles gönnte, ja, er brachte Josie sogar
Noten amerikanischer Märsche und natürlich auch der Nationalhymne,
aber allein aus der Freude an der Musik war es wohl nicht zu
erklären, als er eines Tages, ohne allen Scherz, Josie fragte, ob er
nicht auch das Spiel auf der Geige oder auf dem Waldhorn lernen
wolle.
Natürlich
war das Lernen des Englischen Josies erste und wichtigste Aufgabe.
Ein junger Professor einer Handelshochschule erschien morgens um
sieben Uhr in Josies Zimmer und fand ihn schon an seinem Schreibtisch
bei den Heften sitzen oder memorierend im Zimmer auf und ab gehn.
Josie sah wohl ein, dass zur Aneignung des Englischen keine Eile groß
genug sei und dass er hier außerdem die beste Gelegenheit habe,
seinem Onkel eine außerordentliche Freude durch rasche Fortschritte
zu machen. Und tatsächlich gelang es bald, während zuerst das
Englische in den Gesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß und
Abschiedsworte beschränkt hatte, immer größere Teile der Gespräche
ins Englische hinüber zu spielen, wodurch gleichzeitig
vertraulichere Themen sich einzustellen begannen. Das erste
amerikanische Gedicht, die Darstellung einer Feuersbrunst, das Josie
seinem Onkel an einem Abend rezitieren konnte, machte diesen tief
ernst vor Zufriedenheit. Sie standen damals beide an einem Fenster in
Josies Zimmer, der Onkel sah hinaus, wo alle Helligkeit des Himmels
schon vergangen war, und schlug im Mitgefühl der Verse langsam und
gleichmäßig in die Hände, während Josie aufrecht neben ihm stand
und mit starren Augen das schwierige Gedicht sich entrang.
Je
besser Josies Englisch wurde, desto größere Lust zeigte der Onkel,
ihn mit seinen Bekannten zusammenzuführen und ordnete nur für jeden
Fall an, dass bei solchen Zusammenkünften vorläufig der
Englischprofessor sich immer in Josies Nähe zu halten habe. Der
allererste Bekannte, dem Josie eines Vormittags vorgestellt wurde,
war ein schlanker, junger, unglaublich biegsamer Mann, den der Onkel
mit besonderen Komplimenten in Josies Zimmer führte. Es war offenbar
einer jener vielen, vom Standpunkt der Eltern aus gesehen,
missratenen Millionärssöhne, dessen Leben so verlief, dass ein
gewöhnlicher Mensch auch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses
jungen Mannes nicht ohne Schmerz verfolgen konnte. Und als wisse oder
ahne er dies und als begegne er dem, so weit es in seiner Macht
stand, war um seine Lippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln des
Glückes, das ihm selbst, seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu
gelten schien.
Mit
diesem jungen Mann, einem Herrn Mack, wurde unter unbedingter
Zustimmung des Onkels, besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh,
sei es in der Reitschule, sei es ins Freie zu reiten. Josie zögerte
zwar zuerst seine Zusage zu geben, da er doch noch niemals auf einem
Pferd gesessen war und das Reiten zuerst ein wenig lernen wolle, aber
da ihm der Onkel und Mack so sehr zuredeten und das Reiten als bloßes
Vergnügen und als gesunde Übung, aber gar nicht als Kunst,
darstellten, sagte er schließlich zu. Nun musste er allerdings schon
um halb fünf aus dem Bett und das tat ihm oft sehr Leid, denn er
litt hier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die er während
des Tages aufwenden musste, geradezu an Schlafsucht, aber in seinem
Badezimmer verlor sich das Bedauern bald. Über die ganze Wanne, der
Länge und Breite nach, spannte sich das Sieb der Dusche — welcher
Mitschüler zuhause und war er noch so reich, besaß etwas Derartiges
und gar noch allein für sich — und da lag nun Josie ausgestreckt,
in dieser Wanne konnte er die Arme ausbreiten und ließ die Ströme
des lauen, heißen, wieder lauen und endlich eisigen Wassers, nach
Belieben teilweise oder über die ganze Fläche hin auf sich herab.
Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden Genusse des Schlafes lag er
da und fing besonders gern mit den geschlossenen Augenlidern die
letzten, einzeln fallenden Tropfen auf, die sich dann öffneten und
über das Gesicht hin flossen.
In
der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauende Automobil des Onkels
absetzte, erwartete ihn bereits der Englischprofessor, während Mack
ausnahmslos erst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt erst
später kommen, denn das eigentliche, lebendige Reiten fing erst an,
wenn er da war. Bäumten sich nicht die Pferde aus ihrem bisherigen
Halbschlaf auf, wenn er eintrat, knallte die Peitsche nicht lauter
durch den Raum, erschienen nicht plötzlich auf der umlaufenden
Galerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter, Reitschüler
oder was sie sonst sein mochten? Josie aber nützte die Zeit vor der
Ankunft Macks dazu aus, um doch ein wenig, wenn auch nur die
primitivsten Vorübungen des Reitens, zu betreiben. Es war ein langer
Mann da, der auf den höchsten Pferderücken mit kaum erhobenem Arm
hinauf reichte und der Josie diesen immer kaum eine Viertelstunde
dauernden Unterricht erteilte. Die Erfolge, die Josie hierbei hatte,
waren nicht übergroß und er konnte sich viele englische Klagerufe
dauernd aneignen, die er während dieses Lernens zu seinem
Englischprofessor atemlos ausstieß, der immer am gleichen Türpfosten
meist sehr schlafbedürftig lehnte. Aber fast alle Unzufriedenheit
mit dem Reiten hörte auf, wenn Mack kam. Der lange Mann wurde
weggeschickt und bald hörte man in dem noch immer halbdunklen Saal
nichts anderes, als die Hufe der galoppierenden Pferde und man sah
kaum etwas anderes als Macks erhobenen Arm, mit dem er Josie ein
Kommando gab. Nach einer halben Stunde solchen wie Schlaf vergehenden
Vergnügens, wurde Halt gemacht, Mack war in großer Eile,
verabschiedete sich von Josie, klopfte ihm manchmal auf die Wange,
wenn er mit seinem Reiten besonders zufrieden gewesen war und
verschwand, ohne vor großer Eile mit Josie auch nur gemeinsam durch
die Tür heraus zu gehen. Josie nahm dann den Professor mit ins
Automobil und sie fuhren zu ihrer Englischstunde meist auf Umwegen,
denn bei der Fahrt durch das Gedränge der großen Straße, die
eigentlich direkt von dem Hause des Onkels zur Reitschule führte,
wäre zu viel Zeit verloren gegangen. Im Übrigen hörte wenigstens
diese Begleitung des Englischprofessors bald auf, denn Josie, der
sich Vorwürfe machte, den müden Mann nutzlos in die Reitschule zu
bemühen, zumal die englische Verständigung mit Mack eine sehr
einfache war, bat den Onkel, den Professor von dieser Pflicht zu
entheben. Nach einiger Überlegung gab der Onkel dieser Bitte auch
nach.
Verhältnismäßig
lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloss, Josie auch nur einen
kleinen Einblick in sein Geschäft zu erlauben, trotzdem Josie öfters
darum ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions- und
Speditionsgeschäftes, wie sie, so weit sich Josie erinnern konnte,
in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. Das Geschäft bestand
nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von
den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern
vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und
Urprodukte für die großen Fabrikskartelle und zwischen ihnen
besorgte. Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufe,
Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfasste
und ganz genaue, unaufhörliche telefonische und telegrafische
Verbindungen mit den Klienten unterhalten musste. Der Saal der
Telegrafen war nicht kleiner, sondern größer als das Telegrafenamt
der Vaterstadt, durch das Josie einmal an der Hand eines dort
bekannten Mitschülers gegangen war. Im Saal der Telefone gingen,
wohin man schaute, die Türen der Telefonzellen auf und zu und das
Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächste dieser
Türen und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen
Angestellten gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf
eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren
drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er
besonders schwer und nur die Finger, welche den Bleistift hielten,
zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch. In den Worten, die er
in den Sprechtrichter sagte, war er sehr sparsam und oft sah man
sogar, dass er vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte,
ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte, die er hörte,
zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen konnte, die Augen zu
senken und zu schreiben. Er musste auch nicht reden, wie der Onkel
Josie leise erklärte, denn die gleichen Meldungen, wie sie dieser
Mann aufnahm, wurden noch von zwei anderen Angestellten gleichzeitig
aufgenommen und dann verglichen, so dass Irrtümer möglichst
ausgeschlossen waren. In dem gleichen Augenblick, als der Onkel und
Josie aus der Tür getreten waren, schlüpfte ein Praktikant hinein
und kam mit dem inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durch
den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten
Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloss
sich den Schritten des ihm vorhergehenden an und sah auf den Boden,
auf dem er möglichst rasch vorwärts kommen wollte oder fing mit den
Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er
in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.
"Du
hast es wirklich weit gebracht", sagte Josie einmal auf einem
dieser Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage
verwenden musste, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen
haben wollte.
"Und
alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, musst du
wissen. Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft, und
wenn dort am Tag fünf Kisten abgeladen waren, so war es viel, und
ich ging aufgeblasen nach Hause. Heute habe ich die drittgrößten
Lagerhäuser im Hafen und jener Laden ist das Esszimmer und die
Gerätekammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.
"Das
grenzt ja ans Wunderbare", sagte Josie.
"Alle
Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich", sagte der Onkel,
das Gespräch abbrechend.
Eines
Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Josie wie
gewöhnlich allein einzunehmen gedachte und forderte ihn auf, sich
gleich schwarz anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem
zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden. Während Josie sich im
Nebenzimmer umkleidete, setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und
sah die gerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mit der Hand
auf den Tisch und rief laut: "Wirklich ausgezeichnet!"
Zweifellos
gelang das Anziehen besser, als Josie dieses Lob hörte, aber er war
auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.
Im
Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch
in Erinnerung hatte, erhoben sich zwei große, dicke Herren zur
Begrüßung, ein gewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder der
Zweite, wie sich während des Tischgespräches herausstellte. Der
Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort über irgendwelche
Bekannten auszusprechen und überließ es immer Josie, durch eigene
Beobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden. Nachdem
während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche
Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Josie eine gute
Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man
Josie still mit seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen, als sei
er ein Kind, das sich vor allem ordentlich satt essen müsse, beugte
sich Herr Green zu Josie hin und fragte in dem unverkennbaren
Bestreben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, im
Allgemeinen nach Josies ersten amerikanischen Eindrücken. Josie
antwortete unter einer Sterbensstille rings herum mit einigen
Seitenblicken auf den Onkel ziemlich ausführlich und suchte sich zum
Dank durch eine etwas new yorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu
machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle drei Herren
durcheinander und Josie fürchtete schon, einen groben Fehler gemacht
zu haben, jedoch nein, er hatte, wie ihm Herr Pollunder erklärte,
sogar etwas sehr Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien
überhaupt an Josie ein besonderes Gefallen zu finden und während
der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen Besprechungen
zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Josie seinen Sessel nahe zu sich
hin schieben, fragte ihn zuerst vielerlei über seinen Namen, seine
Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich, um Josie
wieder ausruhen zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von sich
und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in
der Nähe von New York wohnte, wo er aber allerdings nur die Abende
verbringen konnte, denn er war Bankier und sein Beruf hielt ihn in
New York den ganzen Tag. Josie wurde auch gleich herzlichst
eingeladen, auf dieses Landgut herauszukommen, ein so frisch
gebackener Amerikaner wie Josie habe ja auch sicher das Bedürfnis,
sich von New York manchmal zu erholen.
Josie
bat den Onkel sofort um die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu
dürfen und der Onkel gab auch scheinbar freudig diese Erlaubnis,
ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur in Erwägung
ziehen zu lassen, wie es Josie und Herr Pollunder erwartet hatten.
Aber
schon am nächsten Tag wurde Josie in ein Büro des Onkels beordert —
der Onkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause —
wo er den Onkel und Herrn Pollunder beide ziemlich einsilbig in den
Fauteuils liegend antraf. "Herr Pollunder", sagte der
Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmers kaum zu erkennen,
"Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgut
mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben." "Ich
wusste nicht, dass es schon heute sein sollte", antwortete
Josie, "sonst wäre ich schon vorbereitet." "Wenn du
nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch
besser für nächstens", meinte der Onkel. "Was für
Vorbereitungen!" rief Herr Pollunder. "Ein junger Mann ist
immer vorbereitet." "Es ist nicht seinetwegen", sagte
der Onkel zu seinem Gaste gewendet, "aber er müsste immerhin
noch in sein Zimmer hinaufgehen und Sie wären aufgehalten." "Es
ist auch dazu reichlich Zeit", sagte Herr Pollunder, "ich
habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluss
gemacht." "Du siehst", sagte der Onkel, "was für
Unannehmlichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlasst." "Es
tut mir Leid", sagte Josie, "aber ich werde gleich wieder
da sein" und wollte schon weg springen. "Übereilen Sie
sich nicht", sagte Herr Pollunder. "Sie machen mir nicht
die geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir ihr Besuch eine
reine Freude." "Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast
du sie schon abgesagt?" "Nein", sagte Josie, dieser
Besuch, auf den er sich gefreut hatte, fing an eine Last zu werden,
"ich wusste ja nicht-". "Und trotzdem willst du weg
fahren?" fragte der Onkel weiter. Herr Pollunder, dieser
freundliche Mensch, kam zur Hilfe. "Wir werden auf der Fahrt bei
der Reitschule halten und die Sache in Ordnung bringen." "Das
lässt sich hören", sagte der Onkel. "Aber Mack wird dich
doch erwarten." "Erwarten wird er mich nicht", sagte
Josie, "aber er wird allerdings hinkommen." "Nun
also?" sagte der Onkel, als wäre Josies Antwort nicht die
geringste Rechtfertigung gewesen. Wieder sagte Herr Pollunder das
Entscheidende: "Aber Klara", sie war Herrn Pollunders
Tochter, "erwartet ihn auch, und schon heute Abend, und sie hat
wohl den Vorzug vor Mack?" "Allerdings", sagte der
Onkel. "Also lauf schon in dein Zimmer", und er schlug
mehrmals wie ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Josie war
schon bei der Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt:
"Zur Englischstunde bist du doch wohl morgen früh wieder hier?"
"Aber!" rief Herr Pollunder und drehte sich, so weit es
seine Dicke erlaubte, in seinem Fauteuil vor Erstaunen. "Ja darf
er denn nicht wenigstens den morgigen Tag draußen bleiben? Ich
brächte ihn dann übermorgen früh wieder zurück." "Das
geht auf keinen Fall", erwiderte der Onkel. "Ich kann sein
Studium nicht so in Unordnung kommen lassen. Später, wenn er in
einem an und für sich geregelten Berufsleben sein wird, werde ich
ihm sehr gern auch für längere Zeit erlauben, einer so freundlichen
und ehrenden Einladung zu folgen." "Was das für
Widersprüche sind!" dachte Josie. Herr Pollunder war traurig
geworden. "Für einen Abend und eine Nacht steht es aber
wirklich fast nicht dafür." "Das war auch meine Meinung",
sagte der Onkel. "Man muss nehmen, was man bekommt", sagte
Herr Pollunder und lachte schon wieder. "Also, ich warte",
rief er Josie zu, welcher, da der Onkel nichts mehr sagte, davon
eilte. Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büro nur
noch Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder
schüttelte Josie ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so
stark als möglich dessen vergewissern, dass Josie nun doch mitfahre.
Josie war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelte auch
seinerseits Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug
machen zu können. "Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert,
dass ich fahre?" "Aber nein! Das hat er ja alles nicht so
ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am Herzen." "Hat
er es Ihnen selbst gesagt, dass er das Frühere nicht so ernst
gemeint hat?" "Oh ja", sagte Herr Pollunder gedehnt
und bewies damit, dass er nicht lügen konnte. "Es ist
merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu
besuchen, trotzdem Sie doch sein Freund sind." Auch Herr
Pollunder konnte, trotzdem er dies nicht offen eingestand, keine
Erklärung dafür finden und beide dachten, als sie in Herrn
Pollunders Automobil durch den warmen Abend fuhren, noch lange
darüber nach, trotzdem sie gleich von andern Dingen sprachen.
Sie
saßen eng beieinander und Herr Pollunder hielt Josies Hand in der
seinen, während er erzählte. Josie wollte vieles über das Fräulein
Klara hören, als sei er ungeduldig über die lange Fahrt und könne
mit Hilfe der Erzählungen früher ankommen als in Wirklichkeit.
Trotzdem er am Abend noch niemals durch die New Yorker Straßen
gefahren war und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die
Richtung wechselnd, wie in einem Wirbelwind, der Lärm jagte, nicht
wie von Menschen verursacht, sondern wie ein fremdes Element,
kümmerte sich Josie, während er Herrn Poilunders Worte genau
aufzunehmen suchte, um nichts anderes, als um Herrn Pollunders dunkle
Weste, über die quer eine goldene Kette ruhig hing. Aus den Straßen,
wo das Publikum in großer, unverhüllter Furcht vor Verspätung im
fliegenden Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile
gebracht waren, zu den Theatern drängte, kamen sie durch
Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihr Automobil durch
Polizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen gewiesen wurde,
da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die
im Streik standen, besetzt waren und nur der notwendigste
Wagenverkehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden konnte.
Durchquerte dann das Automobil aus dunkleren, dumpf hallenden Gassen
kommend, eine dieser ganzen Plätzen gleichenden Straßen, dann
erschienen nach beiden Seiten hin in Perspektiven, denen niemand bis
zum Ende folgen konnte, die Trottoire angefüllt mit einer in
winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesang einheitlicher
war, als der einer einzigen Menschenstimme. In der freigehaltenen
Fahrbahn aber sah man hier und da einen Polizisten auf unbeweglichem
Pferd oder Träger von Fahnen oder beschriebenen, über die Straße
gespannten, Tüchern oder einen von Mitarbeitern und Ordonnanzen
umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen der elektrischen
Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte und nun
leer und dunkel dastand, während der Führer und der Schaffner auf
der Plattform saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standen weit
entfernt von den wirklichen Demonstranten und verließen ihre Plätze
nicht, trotzdem sie über die eigentlichen Ereignisse im Unklaren
blieben. Josie aber lehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihn
gelegt hatte, die Überzeugung, dass er bald in einem beleuchteten,
von Mauern umgebenen, von Hunden bewachten Landhause ein willkommener
Gast sein werde; dies tat ihm über alle Maßen Wohl und wenn er auch
wegen einer beginnenden Schläfrigkeit, nicht mehr alles, was Herr
Pollunder sagte, fehlerlos oder wenigstens nicht ohne Unterbrechungen
auffasste, so raffte er sich doch von Zeit zu Zeit auf und wischte
sich die Augen, um wieder für eine Weile festzustellen, ob Herr
Pollunder seine Schläfrigkeit bemerke, denn das wollte er um jeden
Preis vermieden wissen.
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